Aktien
10 min zu lesen 3 Juni 25
In den letzten Jahren haben US-Aktien stetig besser abgeschnitten als Börsentitel aus anderen Ländern. Dies trug zur Auffassung einer Ausnahmestellung der USA bei. Im bisherigen Verlauf des Jahres 2025 sind US-Aktien jedoch ins Stocken geraten, während die Kurse europäischer Aktien, die jahrelang ein Schattendasein geführt hatten, demgegenüber stark aufgeholt haben. Dominic Howell geht der Frage nach, was das Interesse der Anleger an Europa neu entfacht hat und ob dies der Beginn einer neuen Ära für den Kontinent ist.
Die Finanzmärkte sind grundsätzlich unberechenbar – die Assetpreise steigen und fallen, Trends kommen und gehen. In den letzten fünf Jahren hat jedoch ein Trend eine starke Dynamik entwickelt: der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des US-Aktienmarkts. Der US-Index S&P 500 hat immer neue Rekordhöhen erreicht, andere Märkte übertroffen und die Idee von der Ausnahmestellung der Vereinigten Staaten unterstützt.
Es gibt zweifellos gute Gründe, warum die Kurse amerikanischer Aktien in letzter Zeit so stark zugelegt hatten: Die Arbeitsproduktivität in den Vereinigten Staaten ist seit der globalen Finanzkrise (September 2008) gestiegen, und US-Unternehmen sind strukturell rentabler als solche aus anderen Ländern.
Die USA sind auch die Heimat äußerst innovativer Unternehmen, und die Begeisterung für das Thema Künstliche Intelligenz (KI) war ein wichtiger Faktor für den letzten Marktaufschwung. Dabei hat eine Gruppe von Technologiegiganten, die sogenannten „Magnificent Seven“ (Mag 7), einen Großteil der Zuwächse beigetragen1.
Da auch die US-Wirtschaft stärker wächst als andere Volkswirtschaften, war es nicht verwunderlich, dass die Anleger ein besonderes Interesse an Aktien aus den Vereinigten Staaten gezeigt haben. Die Perspektiven von US-Aktien wurden auch Anfang 2025 noch optimistisch eingeschätzt, als Donald Trump wieder ins Weiße Haus gelangte, da man erwartete, dass er wirtschaftsfördernde Schritte wie Steuersenkungen und Deregulierung vornehmen würde.
Allerdings haben US-Aktien in diesem Jahr bisher die Erwartungen nicht erfüllt. Allein im März fiel der S&P 500 Index um 10 % gegenüber seinem Höchststand, weil man befürchtete, dass die Handelszölle der neuen US-Regierung eine Abkühlung der Konjunktur verursachen könnten.
Da das Vertrauen in die Ausnahmestellung der USA geschwunden zu sein scheint, haben die Anleger alternative Aktienmärkte entdeckt. Europäische Aktien, insbesondere solche aus Deutschland, haben sich in diesem Jahr außergewöhnlich erwiesen und ihre amerikanische Pendants deutlich übertroffen.
Bei einem ausgeprägten Trend wie der langfristigen Kursrallye bei US-Aktien besteht das Risiko, dass Anlegern sich sorgen, etwas zu verpassen. Wenn Investoren einem Trend folgen, um an den damit verbundenen Gewinnchancen teilzuhaben, ignorieren sie möglicherweise die vielversprechenden Optionen, die andernorts bestehen.
Der europäische Aktienmarkt ist in den letzten Jahren von den Anlegern zweifellos übergangen worden. Im Gegensatz zur Idee der Ausnahmestellung der USA herrschte in letzter Zeit beträchtlicher Pessimismus in Bezug auf Europas Aussichten. Anlass dazu gaben der anhaltende Ukraine-Krieg, höhere Energiepreise, der geringe fiskalpolitische Spielraum der Regierungen und die Konjunkturabschwächung in China.
Auch das Wirtschaftswachstum in der Eurozone war nach der Covid-Krise relativ schwach. Stieg die Wirtschaftsleistung im Euroraum im vierten Quartal 2024 im Vorjahresvergleich um nur 0,9 %, legte sie in den USA im gleichen Zeitraum um 2,5 % zu2.
Da es in Europa nur wenige Technologiefirmen von Weltrang gibt, haben die europäischen Aktienmärkte seit der Einführung von ChatGPT im Jahr 2022 auch nicht von der Begeisterung für das Thema KI profitieren können.
Jedoch mangelt es in Europa nicht an gut geführten und gut bewerteten Unternehmen. Dazu zählen globale Champions, in Nischen dominierende Anbieter und lokale Firmen mit strukturellem Wachstum – sagt John William Olsen, Manager der M&G European Sustain Paris Aligned Strategie.
„In Europa gibt es eine einzigartige Tradition im Bereich Luxusmarken, aber auch bei global aktiven Lebensmittelmarken, regional definierten Spirituosenmarken und weltweit führenden Industriemarken. Es gibt zudem eine bedeutende Designtradition in Nordeuropa sowie erfolgreiche Innovationszentren wie die Universität Oxford in England und das Firmenumfeld von Novo Nordisk in Dänemark“, erklärt er.
„Die meisten der europäischen Gewinner sind wirklich global orientiert und sollten vom Wirtschaftswachstum außerhalb ihres Landes oder ihrer Region profitieren.“
Es gibt auch wichtige Unterschiede zwischen den führenden Unternehmen in Europa und ihren Pendants in den USA. Die größten europäischen Firmen verteilen sich auf viel mehr Sektoren als die technologieorientierten Mag 7 und umfassen auch die Bereiche Luxusgüter, Pharmazeutika und Basiskonsumgüter.
Obwohl die US-Börse ebenfalls eine enorme Vielfalt in der Breite und der Tiefe aufweist, konzentrieren sich die Anleger dort in der Regel auf die Mag 7, die alle mit einem ähnlichen Thema der New Economy in Verbindung stehen. Sie machen zudem einen beträchtlichen Teil des S&P 500 Index aus. Anfang 2025 entfielen auf die Mag 7 etwa 33 % des Index, und ihre Wertentwicklung kann das Abschneiden des gesamten Marktes3 beeinflussen.
Für Anleger, die das Konzentrationsrisiko auf dem US-Markt kritisch sehen, kann Europa ein breites Spektrum an Chancen in verschiedenen Sektoren und Ländern bieten.
Der Hauptunterschied zwischen den US-amerikanischen und den europäischen Märkten, der die Anleger wohl dazu veranlasst hat, ihr Augenmerk auf Europa zu richten, betrifft jedoch die Bewertungen.
Europäische Aktien werden derzeit mit einem erheblichen Abschlag gegenüber US-Titeln gehandelt. Während die Bewertungen von US-Aktien in den letzten Jahren erheblich gestiegen sind, hat sich der europäische Markt in dieser Hinsicht kaum bewegt und ist auch im historischen Vergleich relativ attraktiv bewertet.
Die Anleger haben in der Vergangenheit bei US-Aktien höhere Bewertungen akzeptiert als bei europäischen Pendabts, und zwar aus einigen der genannten Gründe wie höhere Rentabilität und günstiges wirtschaftliches Umfeld. Allerdings hat sich dieser Abschlag in letzter Zeit vergrößert, und die Anleger fragen sich womöglich, ob er zu groß geworden ist.
Dass europäische Aktien in jedem Sektor mit einem Abschlag gegenüber ihren US-Pendants gehandelt werden, ist nach Ansicht von Richard Halle, Manager der M&G European Strategic Value Strategie, ein ermutigendes Signal für Anleger.
„Zwar sind in den USA führende Technologieunternehmen ansässig, welche die KI-Revolution vorantreiben, und die Unternehmen dort profitieren auch von niedrigeren Energiekosten als europäische Firmen. Dennoch ist es fraglich, ob das Umfeld so viel besser ist als in Europa“, so Richard Halle. Die Aussichten für Europa sind nicht so schlecht wie befürchtet, und nach Ansicht von Halle ist der Bewertungsabschlag nicht gerechtfertigt.
Die unterschiedliche Entwicklung der US-amerikanischen und europäischen Aktien im laufenden Jahr deutet darauf hin, dass sich die Anleger allmählich der Auffassung von Richard Halle anschließen könnten. Die Wiederentdeckung des Aktienmarktes in Europa steht noch am Anfang, und es bleibt abzuwarten, ob der Trend an Dynamik gewinnt. Allerdings gibt es einige bedeutende politische und makroökonomische Entwicklungen, die für einen optimistischeren langfristigen Anlageausblick für Europa sprechen könnten.
Ein bemerkenswerter und eher unerwarteter Beschleuniger der Wiederentdeckung Europas in diesem Jahr ist US-Präsident Donald Trump. Seit seiner Rückkehr ins Weiße Haus hat Trump das wirtschaftliche Umfeld mit einer Reihe von Einfuhrzöllen durcheinander gebracht. Er hat auch die geopolitische Landschaft auf den Kopf gestellt, indem er angekündigt hat, dass die USA ihr militärisches Engagement in Europa verringern könnten.
Als Reaktion auf Trumps „America First"-Agenda und die Notwendigkeit, dass Europa auf eigenen Füßen stehen muss, haben europäische Politiker Schritte angekündigt, die sich nicht nur auf die Sicherheit beziehen, sondern der Region auch einen langfristigen wirtschaftlichen Aufschwung bescheren könnten.
Der neue deutsche Bundeskanzler4 Friedrich Merz kündigte umfangreiche Investitionen in den Bereichen Infrastruktur und Verteidigung an und erklärte, Deutschland werde alles tun, um Freiheit und Frieden zu sichern. Die Entscheidung, die „Schuldenbremse“ zu reformieren, die das jährliche Defizit des deutschen Staatshaushalts auf 0,35 % des BIP begrenzt hat, um höhere Ausgaben zu ermöglichen, kann als Hinweis für den grundlegenden Wandel gelten.
In Verbindung mit dem Plan der Europäischen Union, die Militärausgaben in der EU in den nächsten vier Jahren um 800 Milliarden Euro zu erhöhen, könnten die staatlichen Mehrausgaben Deutschlands die Konjunktur in Europa beflügeln.
Aus Anlageperspektive werden Rüstungsunternehmen klar von der militärischen Aufrüstung Europas profitieren, und ihre Aktienkurse gehörten in diesem Jahr zu den Spitzenreitern.
Aber diese Ausgaben könnten sich auf alle Teile des Industriesektors in Europa auswirken. So könnten Unternehmen der Stahl- und Zementindustrie, die in den letzten Jahren mit gedämpfter Nachfrage zu kämpfen hatten, von einer effektiven Reindustrialisierung in Europa profitieren. Wenn sich das Wirtschaftswachstum infolge dieser Investitionen belebt, müssen die Zinsen möglicherweise länger hoch bleiben, was europäischen Banken zugutekommen könnte. Ein lebhafteres Konjunkturumfeld könnte sich auch positiv auf die Verbraucherausgaben auswirken.
Auch wenn die europäische Wirtschaft durch einen langwierigen Handelskonflikt mit den USA sowie durch eine allgemeine Abschwächung der Weltkonjunktur gefährdet sein könnte, eröffnen die vorgeschlagenen Konjunkturanreize potenziell ein sehr günstiges Umfeld für Investitionen in der Region.
Richard Halle ist optimistisch, was die aktuellen Aussichten für europäische Aktien und speziell niedrig bewertete, wenig nachgefragte Value-Aktien angeht. „Es gibt die Auffassung, dass Value-Investing überholt ist, doch in Europa floriert der Value-Stil“, betont er.
Nachdem Value-Aktien so lange ignoriert worden waren, dauert es eine Weile, bis die Anleger erkennen, dass Value-Investments funktionieren. Halle glaubt jedoch, dass es derzeit starke Argumente für europäische Value-Aktien gibt. Er betont, dass die große Bewertungsspanne zwischen den billigsten und den teuersten Aktien ein günstiges Umfeld für Value-Investoren schafft.
Da sich Value-Chancen am ganzen Aktienmarkt bieten und nicht auf wenige Sektoren oder Regionen beschränkt sind, können Value-Investoren in Europa nach Überzeugung von Halle diversifizierte Portfolios mit attraktiv bewerteten, gut geführten und soliden Unternehmen bilden. Wichtig ist, dass man nicht in notleidende oder in Umstrukturierung befindliche Unternehmen investieren muss. „Value-Investoren finden heute attraktive Gelegenheiten, ohne Abstriche bei Qualität oder Wachstum machen zu müssen. Das aktuelle Umfeld ist sehr spannend“, meint Richard Halle.
Das Investmentumfeld ist zweifellos von Unsicherheit geprägt. Die Politik von US-Präsident Trump dürfte die wirtschaftlichen Regeln und geopolitischen Vereinbarungen der letzten Jahren in Frage stellen. Anleger müssen sich in diesem Umfeld möglicherweise neu orientieren. Da die Vorstellung einer Ausnahmerolle der USA zu bröckeln beginnt, erscheinen die Aussichten für Europa heute zunehmend vielversprechend, und es könnte ein attraktives alternatives Anlageziel sein.
Während die neue US-Regierung versucht, die Verschuldung und die Staatsausgaben zu reduzieren, werden in Europa Konjunkturanreize gesetzt, die der europäischen Wirtschaft kräftigen Schub geben könnten. Für Anleger, die von dieser potenziell dynamischen neuen Ära in Europa profitieren und ihr Portfolio über die USA hinaus diversifizieren wollen, könnten sich europäische Value-Aktien als besonders lohnende langfristige Strategie erweisen.
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1 Die US-MegaCap-Aktien der „Mag 7“-Gruppe umfasst Alphabet, Amazon, Apple, Meta Platforms, Microsoft, Nvidia und Tesla.
2 GDP and employment both up by 0.1% in the euro area - Euro indicators - Eurostat.
3 Opening Bell Daily, “The S&P 500 barely moves without the Magnificent 7”, (openingbelldailynews.com) 6. Januar 2025.
4 Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels.